Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Präsentismus — ein unterschätzter Kostenfaktor

Fallen Mitarbeiter krankheitsbedingt aus, stellt dies nicht nur Unternehmen vor große Herausforderungen. Auch ganze Volkswirtschaften sind betroffen. Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zufolge, führten krankheitsbedingte Fehlzeiten 2014 volkswirtschaftlich zu einem Produktionsverlust von rund 57 Mrd. Euro bzw. einem Verlust an Arbeitsproduktivität (Ausfall an Bruttowertschöpfung) von 90 Mrd. Euro (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2016, s. „Weitere Infos“).

Krankheitsbedingte Ausfälle sind aber nur eine Seite der Medaille. Weitaus mehr, nämlich rund ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts, verliere die deutsche Volkswirtschaft durch Arbeitnehmer, die krank zur Arbeit gehen – so zumindest die Ergebnisse einer Studie der Strategieberatung Booz & Company (PwC Strategy&, Germany, GmbH 2011).

Während sich der Krankenstand in Deutschland seit langem auf einem sehr niedrigen Niveau bewegt, deuten verschiedene Studien darauf hin, dass Mitarbeiter vermehrt trotz Krankheit arbeiten gehen (Schmidt u. Schröder 2010).

Das Verhalten von Beschäftigten, trotz Krankheit arbeiten zu gehen, wird gemeinhin als Präsentismus bezeichnet (s. Infokasten und  Abb. 1).

Prävalenz

Diversen Studienergebnissen aus Skandinavien zufolge bewegt sich der Anteil der Mitarbeiter, die trotz Krankheit arbeiten gehen, auf einem erschreckend hohen Niveau. In der Studie von Aronsson und Gustafsson aus dem Jahr 2005 beispielsweise gaben 53 % der Befragten an, im Vorjahr mehr als einmal krank arbeiten gegangen zu sein. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die Studien von Elstad und Vabo (2008), Bergström et al. (2009), Demerouti et al. (2009) sowie des Forscherduos Hansen und Andersen (2009).

In Deutschland liegen hierzu Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus den Jahren 2003 und 2007 vor. Damals wurden jeweils rund 2000 GKV-Mitglieder u. a. zu ihrem Verhalten im Krankheitsfall befragt. In beiden Jahren gaben rund zwei Drittel der Befragten an, im Vorjahr zur Arbeit gegangen zu sein, obwohl sie sich krank gefühlt hätten. Rund ein Drittel der Befragten ging sogar gegen den Rat ihres Arztes arbeiten. Dabei zeigten sich z. T. deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So gingen Frauen tendenziell öfter trotz Krankheit arbeiten als Männer (Zok 2008; Schmidt u. Schröder 2010).

Ursachen und Folgen

Die Gründe für ein solches Verhalten sind mannigfaltig. Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zufolge sei dieses Verhalten insbesondere in konjunkturell schwierigen Zeiten gehäuft zu beobachten. Demnach entwickle sich der Krankenstand i. d. R. prozyklisch zur aktuellen Wirtschafts- und Beschäftigungssituation (Kohler 2002). Neben diesen Gründen spielen oftmals auch die vorherrschende Unternehmenskultur und die Führungsphilosophie eine wichtige Rolle.

In einigen Indikationen (z. B. bei Depressionen oder Rückenschmerzen) kann es durchaus sinnvoll sein, wenn Mitarbeiter trotz gesundheitlicher Einschränkungen weitestgehend ihrer normalen Tätigkeit nachgehen. Der möglichst lange Verbleib am Arbeitsplatz bzw. eine rasche Wiedereingliederung nach einer Phase der Arbeitsunfähigkeit ist in dem Zusammenhang insbesondere aus medizinischen Gesichtspunkten grundsätzlich zu befürworten (z. B. Bödeker u. Hüsing 2007). Im Allgemeinen ist Präsentismus allerdings mit negativen Konsequenzen assoziiert. Die Mitarbeiter gefährden nämlich nicht nur ihre eigene Gesundheit und die der Kollegen, sondern stellen zugleich auch einen erheblichen Kostenfaktor für die Unternehmen und die Gesellschaft dar. Nicht selten sind die Beschäftigten in ihrer Leistungsfähigkeit deutlich eingeschränkt und weniger produktiv. Eine geringere Arbeitsqualität sowie eine erhöhte Anzahl von Fehlern oder Unfällen bei der Arbeit sind mögliche Folgen. Oftmals kann auch nicht dieselbe Arbeitsmenge bewältigt werden wie üblich. Ferner deuten verschiedene Studien auf ein erhöhtes Risiko für einen vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben hin.

Produktivitätsverluste

Die damit einhergehenden Produktivitätsverluste sind enorm. Je nach Quelle werden die Verluste auf genauso groß bzw. ein Vielfaches der Kosten beziffert, die Unternehmen bzw. der Gesellschaft durch krankheitsbedingte Fehlzeiten (Absentismus) entstehen (z. B. Steinke u. Badura 2011; Schmidt u. Schröder 2010).

Eine Untersuchung aus dem Jahr 2004 beispielsweise kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil von Präsentismus an den gesamten indirekten Kosten je nach Indikation zwischen 18 % und 60 % liegt (Goetzel et al. 2004; s. Infokasten und  Abb. 2). Eine andere Studie aus dem Jahr 2012 spricht sogar von 70 % (Braakman-Jansen et al. 2012).

Migräne und Kopfschmerzen gelten gemeinhin als die Indikationen mit den deutlichsten Produktivitätsverlusten am Arbeitsplatz, gefolgt von Atemwegserkrankungen und Depressionen.

Im Falle von Migräne beispielsweise kommt eine amerikanische Studie zu dem Ergebnis, dass einem großen Unternehmen mit 80 000 Mitarbeitern jährlich indirekte Krankheitskosten in Höhe von 21,5 Millionen Dollar entstehen, von denen 40 % auf Absentismus und 60 % auf Präsentismus zurückzuführen sind (Burton et al. 2002). Auch bei rheumatoider Arthritis ist mit enormen Auswirkungen auf die Produktivität zu rechnen. Eine Untersuchung bei ambulanten Patienten mit rheumatoider Arthritis zeigt wöchentliche Präsentismuskosten pro Person zwischen 79 und 318 Euro, abhängig vom verwendeten Messinstrument (QQ, WPAI-GH bzw. HLQ; Braakman-Jansen et al. 2012). Eine andere Forschergruppe spricht von 84 bis 102 Euro pro Patient und Woche (Sogaard et al. 2010). Ähnliche Werte berichten auch Zhang und Kollegen (2010). Für die Indikation Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) wurden Kosten für Präsentismus von 1947 Euro pro Jahr und Patient publiziert (Boonen et al. 2010). Auch in der Indikation Refluxösophagitis (im Allgemeinen „Sodbrennen“) übersteigen die Kosten durch Präsentismus laut einer Studie von Gisbert und Kollegen (2009) die Kosten aufgrund von krankheitsbedingter Abwesenheit vom Arbeitsplatz.

Von deutlich geringeren Auswirkungen auf die Produktivität am Arbeitsplatz wird bei Bluthochdruck und Herzerkrankungen ausgegangen.

Fazit

Die Daten sind jedoch allesamt nur bedingt belastbar (z. B. Zhang et al. 2010; Hägerbäumer 2001). Dies liegt mitunter an den mit der Messung des Phänomens verbundenen methodischen Schwierigkeiten. So stehen zur Messung und Bewertung des Verhaltens sowie der daraus resultierenden Kosten zwar diverse Instrumente (z. B. WPAI, HLQ, SPS) zur Verfügung, diese gelten jedoch zumeist als noch nicht ausgereift bzw. unvollständig. Hinzu kommen länderspezifische Besonderheiten, insbesondere im Hinblick auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, so dass die einzelnen Studien eigentlich kaum miteinander verglichen werden können.

Dennoch deuten die Studien darauf hin, dass Präsentismus auch aus ökonomischer Sicht ein bedeutender Faktor ist, den es angemessen zu berücksichtigen gilt. Während die Kosten durch Präsentismus noch vor wenigen Jahren kaum berücksichtigt wurden, erfreut sich die Erforschung des Phänomens zunehmender Beliebtheit. Vor dem Hintergrund der damit verbundenen Folgen für den Einzelnen, das Unternehmen und die Gesellschaft wäre es wünschenswert, wenn die Erforschung des Themas weiter forciert würde.

Literatur

Schmidt J, Schröder H: Präsentismus – Krank zur Arbeit aus Angst vor Arbeitsplatzverlust. In: Badura B et al. (Hrsg.): Fehlzeitenreport 2009. Berlin: Springer, 2010.

Steinke M, Badura B: Präsentismus. Ein Review zum Stand der Forschung. 1. Aufl. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2011.

Zok K: Gesundheitsprobleme von Arbeitnehmern und ihr Verhalten im Krankheitsfall – Ergebnisse aus zwei Repräsentativumfragen unter GKV Mitgliedern. WIdOmonitor 2008; 5: 1–7.

Die vollständige Literaturliste kann bei der Autorin oder beim Verlag angefordert werden.

    Info

    Präsentismus

    Das Phänomen ist international bekannt und gut untersucht. Dabei stehen die Erforschung der Folgen für die Gesundheit der Betroffenen sowie die Ursachen für dieses Verhalten und dessen Verbreitung im Mittelpunkt. Neben diesem Ansatz existiert ein weiterer Forschungsstrang. Der Fokus liegt hier auf den Produktivitätseinbußen, die entstehen, wenn Mitarbeiter krank zur Arbeit gehen. Diese Denkweise stammt aus den USA und gilt auch heute noch als angloamerikanische Perspektive. In Deutschland hingegen konzentriert sich die Debatte eher auf den verhaltensbezogenen Ansatz (z. B. Steinke u. Badura 2011).

    Info

    Krankheitskosten können im Allgemeinen in direkte, indirekte und intangible Kosten unterschieden werden. Medizinische Kosten wie z. B. Kosten für Arzneimittel oder die ärztliche Leistungserbringung zählen dabei zu den direkten Kosten. Unter der Kategorie intangible Kosten subsummiert man monetär nicht quantifizierbare Effekte, wie beispielsweise Schmerz oder Leid. Indirekte Kosten sind hingegen monetär messbar. Darunter versteht man gemeinhin den Produktivitätsverlust, der einer Volkswirtschaft entsteht, wenn Mitarbeiter krankheitsbedingt ausfallen oder, bedingt durch gesundheitliche Einschränkungen, weniger leistungsfähig sind. Zu den indirekten Kosten zählen ferner die Kosten, die einer Volkswirtschaft entstehen, wenn Mitarbeiter vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Zur Berechnung indirekter Kosten und Nutzen haben sich in der Literatur unterschiedliche Ansätze herausgebildet (z. B. Humankapitalansatz, Friktionskostenansatz, vgl. Schöffski 2012). Oftmals beschränkt sich die Berechnung indirekter Kosten jedoch auf die Kosten durch Absentismus.

    Weitere Infos

    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit. 2016

    www.baua.de/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Statistiken/Arbeitsunfaehigkeit/Kosten.html

    Hägerbäumer M: Ursachen und Folgen des Arbeitens trotz Krankheit – Implikationen des Präsentismus für das betriebliche Fehlzeiten- und Gesundheitsmanagement. 2001

    https://repositorium.uni-osnabrueck.de/bitstream/urn:nbn:de:gbv:700-201112158616/1/thesis_haegerbaeumer.pdf

    Für die Autoren

    Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement

    Lange Gasse 20

    90403 Nürnberg

    nadja.amler@fau.de