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BUCHVORSTELLUNG

Geschichte(n) der Medizin, Band 2

Dies bedeutet im vorliegenden Fall und für die meisten der 22 Beiträge, dass eine Geschichte als Einzelfall geschildert und in übergeordnete Zusammenhänge eingeordnet wird. “Story telling“ ist ein inzwischen im Wissensmanagement fest etablierter Zugriff. Diese Methode schneidet der Komplexität der Materie nichts ab. Für den Beitrag über Fourier (S. 57 ff.) muss der Leser sein physikalisches Wissen zusammennehmen.

In den meisten der Abhandlungen werden Personen als Ausgangspunkt gewählt. Ausnahmen sind die Beiträge über Drogen und Rausch (S. 149 ff.), Neuroprothetik (S. 153 ff.), Endoprothetik (S. 161 ff.) und Hirnschrittmacher (S. 167 ff.).

Elf der vierzehn Autoren dieses gelungenen Bandes sind Mediziner. Dem Historiker sei an dieser Stelle die Bemerkung erlaubt, dass die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft seit Ranke einen besseren Weg genommen hätte, wären mehr Historiker dem Ärzte- statt dem Pfarrhaus entstammt und hätten sie an den Universitäten mehr medizinische als theologische Veranstaltungen besucht.

Das Spektrum der Beiträge vorliegenden Bandes reicht von der Entdeckung des Blutkreislaufs bis zur Entwicklung von Hirnschrittmachern, also vom 17. bis in das 21. Jahrhundert. Immer wieder wird weit zurückgegriffen. Diese Rückgriffe besitzen zweierlei Funktion: Es soll gezeigt werden, dass  - um bei dem Thema Blutkreislauf zu bleiben -  über diese Frage nicht erst seit Harvey nachgesonnen wurde; zweitens wird in einer Reihe von Beiträgen zumindest indirekt auf bereits in der Antike gestellte, dann über Jahrhunderte vergessene und seit der Frühaufklärung wieder aufgenommene medizinische Fragen hingewiesen. Adorno forderte einst eine Philosophiegeschichte der vergessenen Probleme.

Von Goethe stammt das Wort vom „freundlich aufgefassten Neuen“. In den Beiträgen finden wir hingegen oft Belege für höchst unfreundlich aufgefasstes Neues. In der Diskursgeschichte aller Wissenschaften wurden unter den Talaren oftmals Knüppel verborgen gehalten.

Der Kampf galt auch Personen, so der ersten deutschen Doktorin der Medizin, Dorothea Christina Erxleben (1715 – 1762) aus Quedlinburg (S. 43 ff.). Die Herren Kollegen versuchten, sie nach dem Tod einer ihrer Patientinnen anzuschwärzen. Dass die Erxleben überhaupt hatte studieren und promovieren können, geht auf die Protektion Friedrichs des Großen zurück. Von diesem ist gleich in mehreren Beiträgen die Rede (S. 33 ff.; S. 43 ff.; S. 51 ff.). Friedrich war als „Arzt und Apotheker“ Dilettant in der eigentlichen Bedeutung des Wortes und zumindest mit seiner Annäherung an die Krankheitsphänomene auf der Höhe der Zeit. Auch gehörte er zu den entschiedenen Impfbefürwortern. Ging es um Krankheiten und deren Heilungsmöglichkeiten, dann wusste Friedrich, wovon er sprach. Er wäre aber nicht der „Alte Fritz“ gewesen, hätte er sich den ständigen Spott über Ärzte versagt. Und über Philosophie. Das Aperçu „Alles wohl erwogen, ist gute Verdauung wichtiger als Philosophie“ zählt zu den Sätzen, die der Rezensent in seine Zitate-Datei aufgenommen hat. Selbstverständlich, so möchte man sagen, hielt der Aufklärer Friedrich den Mesmerismus für Scharlatanerie. Diesem Verdikt über Anton Mesmer, den Magnetismus und die publikumswirksame Selbst-Präsentation als Medium der „Allflut“ wird der Verfasser des Mesmer-Beitrags (S. 51 ff.) wohl nicht energisch widersprechen wollen. Aber die Pointe der Untersuchung besteht darin, dass Mesmer mit seinen teils meditativ, teils auch hypnotisch inszenierten Gruppengesprächen mit Patienten als ein Vorläufer der Psychotherapie angesehen werden könne. Hier wird mit einem Vorurteil aufgeräumt. Dasselbe gilt für „Der Komponist Anton Bruckner – Zählzwang und Herzinsuffizienz“ (S. 79 ff.), mit dem die Reihe der Künstler-Pathologien des ersten Bandes „Geschichte(n) der Medizin“ fortgesetzt wird. Lange hielt sich die Auffassung, Bruckner sei eigentlich „dumm“ gewesen. Wir lernen ihn als einen Komponisten kennen, der sich seiner Kunst opferte, sie seinem Körper abrang, und auf alles Fernere verzichtete. Soweit es die erhalten gebliebenen Unterlagen zulassen, werden Bruckners Krankheiten einer modernen Differentialdiagnose unterzogen.

Es kann nicht auf alle Beiträge des Buches näher eingegangen werden. So nicht auf die Tragödie des 99-Tage-Kaisers Friedrich III und die Bergmann-Mackenzie-Kontroverse um den Charakter von dessen Kehlkopf-Krankheit. (S. 99 ff.)  Ergreifend sind Lois Alzheimers Aufzeichnungen über die Gespräche mit seiner debilen Patientin Auguste Deter (S. 91 ff.). Doktor Spleen („Der Arzt in Fuchsfell“, S. 71 ff.) fehlt ebenso wenig wie der geniale Arzt und zugleich Misanthrop und Hagestolz („Die Angina Ludovici“, S. 85 ff.). Wir stoßen auf das Groteske („Die abenteuerliche Entwicklung der Androgentherapie“, S. 107 ff.) und auf die hunderttausendfache Lebensrettung („Das lange Tal“, S. 121 ff.; „Heilender Schimmel“, S. 115 ff.), wir sehen bestürzt das Hineinragen der Politik in den ärztlichen Beruf in der DDR („Horst Gundermann, der Phoniater“, S. 139 ff.).

Die Herausgeber haben die Beiträge chronologisch geordnet. Man braucht diesem Prinzip nicht zu folgen, sondern kann vagabundierend lesen. Im Kopf des Lesers entsteht ein “Big Picture“. Wann erscheint der dritte Band „Geschichte(n) der Medizin“?

Prof. Bernd-A. Rusinek (Forschungszentrum Jülich / Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf)

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