Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Interdisziplinäre Aspekte pneumologischer Berufskrankheiten

Formale Vorgaben (SGB VII, BKV)

Die als Ermächtigungsgrundlage der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) dienende Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) verlangt vorab von den Unfallversicherungsträgern, „… mit allen geeigneten Mitteln … Berufskrankheiten … zu verhüten ...“ (§ 1 SGB VII). Der Bedeutung dieser Vorgabe entsprechend wurde die „Prävention nach dem SGB VII“ dem ehemaligen „Ingenieurbüro“ des Bundessarbeitsministeriums (BMAS), der Unterabteilung „Arbeitsschutz“ als speziellen Verantwortungsbereich übertragen.

§ 9 Abs. 1 SGB VII regelt, welche Krankheiten in der Anlage 1 BKV aufgenommen werden sollen. Diese sog. Berufskrankheitenliste veranschaulicht aber leider auch durch ihren unorthodoxen Aufbau, dass im BKV-/SGB-VII-Zuständigkeitsbereich des BMAS neben Juristen nicht einmal Arbeitsmediziner beschäftigt sind.

Es stellt sich nun die Frage, ob eine Aufbereitung der Berufskrankheiten nach Fachgebieten ( Tabelle 1) helfen kann, die vielfach beklagten Berufskrankheiten – Dunkelziffern zu reduzieren – nämlich durch Steigerung der Kritikfähigkeit der Ärzteschaft bezüglich ihrer BK-Anzeigepflicht (§ 202 SGB VII).

Der BKV-Enumeration folgend soll es daher mit folgender tabellarischen Übersicht erleichtert werden, von Diagnosen ausgehend eine mögliche Verursachung am Arbeitsplatz zu hinterfragen (Hippokrates: Alle Patienten nach ihrem Beruf fragen: Berufsanamnese!). Ferner könnten Arbeits- und Betriebsmediziner nachvollziehen, mit welchen Berufskrankheiten sie bei bestimmten inhalativen Belastungen am Arbeitsplatz möglicherweise zu rechnen haben (vgl. Triebig et al. [Hrsg.] 2014).

Die Systematik der Tabelle 1 entspricht der Anlage 1 BKV, wobei ergänzend entsprechende Symptome bzw. Krankheitsbilder aus den amtlichen Merkblättern bzw. wissenschaftlichen Begründungen des Verordnungsgebers (BMAS) beigefügt wurden. Die daraus resultierenden terminologischen Probleme stellen sicherlich auch für Pneumologen eine Herausforderung dar. Sie spiegeln nämlich die Tatsache wider, dass die inzwischen vom BMAS vollzogene Einstellung der BK-Merkblätter nicht mit einer generellen Annullierung einherging. Folglich dürften demnach die zu den einzelnen BK-Nrn. beschriebenen Befunde, Symptome und Diagnosen z. B. auch bei gutachterlichen Fragestellungen offiziell nicht übergangen werden. Eine ministeriell genehmigte Alternative, insbesondere auch zur Lösung praktischer BK-Zusammenhangsfragen, ist nicht in Sicht.

Es sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass einerseits ärztliche Leitlinien zur klinischen Diagnosesicherung, Therapie etc. ihre fachlichen Grenzen bei dem juristischen Begriff „Berufskrankheit“ (§ 9 SGB VII) finden, andererseits der Verordnungsgeber aber auch keine amtlichen BK-Begutachtungsgrundsätze vorgibt, nach denen in erster Linie Staatliche Gewerbeärzte als BK-Obergutachter tätig werden müssten (vgl. „Versorgungsmedizinische Grundsätze“/VersMedV/BMAS).

Morbidität und Mortalität

Der aktuelle statistische und finanzielle (!) Bericht über die „Die gesetzliche Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2014“ (BMAS 2016) liefert für alle BK-Listenpositionen die entsprechenden Zahlenmaterialien (vgl. Müsch 2015).

Ausgehend von n = 16.305 BK-Verdachtsfällen allein schon in der bronchopulmonalen Hauptgruppe 4 (41–43) sind im laufenden Geschäftsjahr n = 26.344 Rentenfälle aus den Vorjahren und 3448 neue BK-Rentenfälle, aktuell also insgesamt n = 29.792 pneumologische BK-Rentenfälle amtlich ausgewiesen. Davon verstorben sind im Jahre 2014 n = 2186 (2013 n = 2078) Beschäftigte. Für die BK-Hauptgruppen 1–3 liegen keine Einzelangaben vor.

In Gesamtschau mit diesen Daten spiegeln auch die im Berichtsjahr erstmals anerkannten BK-Fälle (n = 5681) wider, dass weiterhin die klassischen Bergleute- und Asbestarbeiter-Krankheiten im negativen Sinne dominieren ( Tabelle 2).

Zu den neueren BK-Nrn. 4112 (SiO2), 4113 (PAK) und 4114 (PAK/Asbest) mit Bronchialkarzinom sei angemerkt, dass deren Auftreten zusammen bei n = 84 liegt und bereits n = 75 Todesfälle zu beklagen sind.

Besondere Aufmerksamkeit verlangen auch die durch Inhalationsnoxen verursachten Schleimhautschädigungen i. S. der BK-Nr. 4302, die langjährig eine relativ hohe, aktuell eine Morbidität von n = 181 sowie eine Mortalität von n = 29 aufweisen.

Ferner sollten an dieser Stelle die allergischen Berufskrankheiten (BK-Nrn. 4201/Alveolitis und 4301/Asthma) nicht übergangen werden, die bei einer gemeinsamen Morbiditätsrate von n = 466 immerhin n = 20 Todesopfer forderten.

Ärztliche Weiterbildungsordnung

Die aktuelle Fassung der (Muster-)Weiterbildungsordnung (Stand: 23.10.2015) stellt klar, dass Pneumologen zwar Kenntnisse über „… Krankheiten … durch Arbeitseinflüsse…“ vorweisen sollen, die Begutachtung von Berufskrankheiten aber von Arbeitsmedizinern durchgeführt werden muss (vgl. Müsch 2015).

Insbesondere auch für (Landes-)Sozialgerichte sei daher hervorgehoben, dass die klinische Diagnosesicherung dem pneumologischen Fachgebiet vorbehalten bleibt, die BK-Zusammenhangsbegutachtung aber eindeutig in den Zuständigkeitsbereich der Arbeitsmedizin fällt. Dementsprechendes gilt auch für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit und folglich der MdE!

Fazit

Die bedeutenden Krankheitsbilder wie Bronchialkarzinom, Lungenfibrose, obstruktive Atemwegserkrankungen („COPD“) etc. werden im Rahmen klinischer Fortbildungsveranstaltungen (einschließlich pneumologischer „Qualitätszirkel“) leider oft nur marginal als Berufskrankheiten behandelt. Dabei wäre es genau dort von Nöten, die vom Verordnungsgeber nicht vorgegebenen Kriterien bezüglich ärztlicher BK-Anzeigepflicht und BK-Begutachtung zu erörtern: Analog zu den umweltmedizinischen Zusammenhangsfragen müssen auch Pneumologen Kenntnisse zum BK-Kausalitätsnexus vorweisen können.

Dabei gilt für gesetzlich definierte und wissenschaftlich begründete Berufskrankheiten in unserem Lande die naturphilosophische Erkenntnis, dass Ursachen die „Kraft“ haben, ihre Wirkungen hervorzubringen, und somit „verantwortlich“ sind „… für das Eintreten ihrer Wirkungen“ (Frisch 2012). Dass Pneumologen diese Sichtweise weniger vertraut ist als Arbeits- und Betriebsmedizinern erklärt sich durch die Tatsache der jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen aufgrund finaler bzw. kurativer gegenüber kausaler und daraus abgeleiteter präventiver Grundorientierung. Die gleiche Selbstverständlichkeit, mit der Pneumologen das Rauchverhalten diskriminieren, müsste aber auch zum Tragen kommen, wenn Arbeitsmediziner die sog. generelle Geeignetheit von Expositionsverhältnissen am Arbeitsplatz für die Pathogenese pneumologischer Krankheiten im Rahmen ihrer BK-Zusammenhangsbeurteilung zu bewerten haben (vgl. Schönberger et al. 2010).

Als Ausblick soll daher an die arbeitsmedizinischen sowie pneumologischen und thoraxchirurgischen Fachgesellschaften appelliert werden, das Thema „Pneumologische Berufskrankheiten“ auf interdisziplinären Kongressen gemeinsam zu behandeln – und dazu möglichst auch Rehabilitationsmediziner mit einzuladen!

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Die gesetzliche Unfallversicherung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2014 – Statististischer und finanzieller Bericht. Bonn: BMAS, 2016.

Müsch FH: Berufskrankheiten – Begutachtung (Editorial). ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 50: 539–540.

Müsch FH: Berufskrankheiten – Todesfälle. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 50: 548–550.

Müsch FH: Berufskrankheiten – Ein medizinisch-juristisches Nachschlagewerk. Berufskrankheiten nach Fachgebieten (Kapitel F). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (WVG), 2006.

Frisch M: Kausalität in der Physik. In: Esfeld M (Hrsg.): Philosophie der Physik. Berlin: Suhrkamp, 2012.

Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H: Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Berlin: Erich Schmitt Verlag, 2010.

Triebig G, Kentner M, Schiele R (Hrsg.): Arbeitsmedizin – Handbuch für Theorie und Praxis. Stuttgart: Gentner, 2014.

Zerlett G: Hugo Wilhelm Knipping. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 1994; 29: 335.

Zur Erinnerung an den zehnten Jahrestag des Todes von Herrn Prof. Dr. med. Georg Zerlett, ASU-Hauptschriftleiter von 1991 bis 2001.

    Autor

    Dr. med. Franz H. Müsch

    Arbeitsmediziner und Pneumologe

    Königsallee 2 b

    40212 Düsseldorf

    www.berufskrankheiten.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen