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Empfehlungen zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Empfehlungen zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Mittlerweile gibt es in Deutschland mehrere Handbücher bzw. Handlungshilfen zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen („Psychische Gefährdungsbeurteilung“; GB-Psych). Diese verweisen auf prinzipielle Voraus-setzungen, Grundsätze und Anforderungen in der Durchführung dieser Gefährdungsbeurteilungen. Dennoch stehen Betriebsärzte in der Praxis vor der beträchtlichen Herausforderung, den komplexen Prozess der GB-Psych in fach-gerechter und einheitlicher Form in der betrieblichen Praxis umzusetzen bzw. beratend zu begleiten. Der Artikel stellt übergeordnete Empfehlungen zur effektiven Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Be-lastungen vor. Insbesondere richten sich die Empfehlungen an Betriebs-ärzte und betriebliche Verantwortliche, die den Auftrag erhalten haben, zur Konzeption und praktischen Durchführung einer GB-Psych im Unternehmen beizutragen, oder diese mitverantworten. Ziel ist, zentrale Erfolgsfaktoren und Handlungsschritte zur effektiven Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen aufzuführen. Dazu wurden bei einem Expertentreffen (Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit in der Arbeit“ der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin, DGAUM) die dargestellten Empfehlungen zusammengetragen und vereinheitlicht. Diese neun Empfehlungen sollen den Betriebsärzten eine Handlungshilfe in der Vorbereitung, Planung und Durchführung einer GB-Psych sein.

Schlüsselwörter: Gefährdungsbeurteilung, psychische Belastungen, Betriebsarzt, Durchführung, Handlungshilfe, Erfolgsfaktoren

Recommendations on developing and carrying out psychosocial risk evaluations at the workplace

In Germany, by now several manuals and practical guides for psychosocial risk evaluation in the workplace (German abbreviation: „GB-Psych“) exist. These publications mainly address general requirements and principles of the psychosocial risk assessment. Risk assessement of psychosocial stress according to the German Safety and Health at Work Act („Arbeitsschutzgesetz“) denotes a process that does not only include measurement and evaluation of psychosocial stress but also countermeasures; therefore, we call the entire process „evaluation“ to delineate it from the „assessment“ in the narrower sense. Occupational physicians and health practitioners are faced with considerable challenges in implementing and monitoring this comprehensive process in practice. This article presents expert-based recommendations for the effective implementation of a psychosocial risk assessment in the workplace. The recommendations are mainly aimed at occupational physicians who are in charge of designing and implementing such a process in practice. The recommendations feature key success factors and action steps for the effective implementation of psychosocial risk evaluations in organisations and enterprises. The recommendations were compiled during an expert meeting of the Working Group „Mental Health in the Workplace“ of the German Society of Occupational and Environmental Medicine (DGAUM). Our nine recommendations provide a practical guide for occupational physicians for the preparation, planning and implementation of psychosocial risk evaluations.

Keywords: risk assessment – psychological stress – company physician – implementation – practical guide – success factors

M. Weigl1

B. Herbig1

A. Bahemann2

I. Böckelmann3

S. Darius3

R. Jurkschat4

S. Kreuzfeld5

J. Lang6

A. Müller7

T. Muth7

D. Nowak1

A. Schneider1

H. Stahlkopf8

P. Angerer7

(eingegangen am 15. 12. 2014, angenommen am 06. 03. 2015)

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2015; 50: 660–665

Hintergrund

Die Beurteilung psychischer Belastungen und Bewertung psychosozialer Risiken am Arbeitsplatz ist ein zentrales Handlungsfeld des modernen Arbeitsschutzes. Betriebsärzte sind hierbei zunehmend angefragt, ihre Kompetenzen und Expertise mit einzubringen (AfA-Med 2011; DGUV 2010a; VDBW 2009; Windemuth et al. 2010). Nicht zuletzt durch die letztjährige Gesetzesänderung (ArbSchG) sowie Änderungen in der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GB-Psych) als geeignetes Instrument und Handlungsfeld stärker in den Fokus betriebsärztlicher Aktivitäten wie auch der Gesundheitsförderung gerückt.

Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

Im Gesetzestext des Arbeitsschutzgesetzes (insbesondere ArbSchG § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 3, § 6 Abs. 1) sind nunmehr auch explizit psychische Belastungen aufgeführt. Wie bei „traditionellen“ Gefährdungen auch, hat der Arbeitgeber für den Bereich psychischer Belastungen die für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdungen zu ermitteln, entsprechende erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu entwickeln und Ergebnisse zu dokumentieren. Gleichwohl, die konkrete Ausgestaltung einer GB-Psych ist nicht geregelt und es fehlt eine einheitliche, vorgegebene Messmethodik. Das führt vielfach zur Handlungsunsicherheit bei der fachgerechten Durchführung einer GB-Psych (AfAMed 2011; Lenhardt et al. 2010; Windemuth et al. 2010).

Empfehlungen zu Methodik und Vorgehen liegen vor: Eine kompetente Entwicklung und Durchführung einer GB-Psych ist ge-rade dann erfolgreich, wenn die im Unternehmen beteiligten Akteure grundsätzliche Empfehlungen und Handlungsschritte einhalten (AfAMed 2011; Beck et al. 2012; DGUV 2010a,b; VDBW 2009). Ent-sprechende Anleitungen und Unterstützungsangebote aus aussagekräftigen Handbüchern (BAuA 2014; Windemuth et al. 2010), praxisorientierten Leitlinien (AfAMed 2011; GDA 2014), methodenbasierten Anleitungsartikeln (Herbig et al. 2012; Wolf et al. 2014) liegen vor. Auch stehen mit der BAUA-Toolbox ( www.baua.de/toolbox ) und dem psyGA Webportal der INQA-Initiative ( www.psyGa.info ) sowie den Angeboten der Sozialpartner (und auch der Unfallkassen, Berufsgenossenschaften oder Arbeitsschutzbehörden) vielfältige Instrumentarien und Methodiken bereit (DGUV 2010b; LASI-52 2009).

Die gesetzliche Vorgabe, das Beachten der grundsätzlichen Emp-fehlungen und das Einhalten der empfohlenen Handlungsschritte allein wird jedoch nicht eine erfolgreiche und fachgerechte Durchführung einer GB-Psych in den Unternehmen gewährleisten. Dar-über hinaus ist es entscheidend, kritische Schritte im innerbetrieblichen Prozess zu kennen und zu meistern; dafür benötigen die Verantwortlichen und Beauftragten effektive Hilfen (DGUV 2010b; EU-OSHA 2012; Satzer u. Langhoff 2010; Wolf et al. 2014). Neben allen methodischen Aspekten sind es also gerade die sogenannten Prozessfaktoren, also günstige Voraussetzungen und Rahmenbedingungen in der Durchführung, die für einen erfolgreichen Verlauf der GB-Psych verantwortlich sind (Beck et al. 2012; Herbig et al. 2012).

Mit unseren Empfehlungen ausgewählter fördernder Faktoren und Rahmenbedingungen zur Durchführung einer GB-Psych versuchen wir, den etablierten, oben aufgeführten Empfehlungen und Anleitungen noch eine zusätzliche Perspektive hinzuzufügen. Die in diesem Beitrag unternommene Erfahrungssammlung von arbeitsmedizinischen und arbeitspsychologischen Experten und praxisorientierten Wissenschaftlern stellen empirische erfolgskritische Faktoren heraus, die in den offiziellen Handlungsempfehlungen und Leit-fäden bislang nicht in genügender Form betont werden.

Ziel und Adressaten dieses Positionspapiers

Auf Basis einer Diskussion der Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit in der Arbeit“ der DGAUM wurden grundsätzliche Empfehlungen zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung zusammen-getragen. Angesichts der Vielfalt bereits existierender Leitlinien, Handbücher und Empfehlungen zielt dieses Positionspapier eher auf die Auflistung von Prozessfaktoren, d. h. günstiger Voraussetzungen, Erfolgsfaktoren und Rahmenbedingungen, die aus Sicht der Beteiligten für eine erfolgreiche Entwicklung und systematische Durchführung der GB-Psych im Unternehmen entscheidend sind. Es bringt die Perspektive von in der Praxis verankerten Hochschulwissenschaftlern, v. a. Psychologen und Ärzten, und in der GB-Psych erfahrenen Betriebsärzten ein. Adressaten sind vorrangig Betriebsärzte, Sicherheitsfachkräfte und all diejenigen Akteure, die zunehmend häufig angefragt werden, eine GB-Psych mit zu verantworten und mit zu gestalten.

Entwicklung der Empfehlungen

Die aufgeführten Empfehlungen sind Resultat eines Workshops der Mitglieder der Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit bei der Ar-beit“ bei der DGAUM. Dieses Papier erhebt weder Anspruch auf Repräsentativität oder Vollständigkeit, sondern soll die einzelnen Erfahrungen und Expertisen der Arbeitsgruppenmitglieder aus Uni-versitäten, Verbänden und Unternehmen zusammenfassen. An zwei Tagen referierten und diskutierten die AG-Mitglieder zum Schwerpunktthema des 7. Jahrestreffens „Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastungen – Handlungshilfen für Betriebsärzte“ (10. bis11. Oktober 2014, Ort: Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München). Die einzelnen Inhalte und Diskussionspunkte wurden qualitativ verdichtet und zu zentralen Aussagen zusammengefasst.

Empfehlungen und Erfolgsfaktoren zur Gefährdungs-beurteilung psychischer Belastungen

1. „Verantwortlichkeiten festlegen!“

Anforderung: Wie bei der bis dato traditionellen liegt auch die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in der Verantwortung des Arbeitgebers bzw. der Führungskraft. An der praktischen Umsetzung sind zumeist jedoch mehrere Akteure im Unternehmen beteiligt. Bereits zu Beginn ist im Unternehmen klar festzulegen, welche Verantwortlichkeiten in der Entwicklung, Abstimmung und Durchführung die einzelnen Beteiligten haben, wie Geschäftsleitung, Betriebsarzt, Betriebsrat, Sicherheitsfachkräfte u. a. m. (Ahlers 2011; Lenhardt et al. 2010). Beispielhafte Leitfragen können hier sein, in welchen Schritten wird er benötigt/ in welche Schritte wird er eingebunden? Wie und in welchen Fällen können sich Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft gegenseitig unterstützen? Ist die Sicherheitsfachkraft bei der GB-Psych überhaupt eingebunden und wenn ja, wobei? Wer informiert in welcher Form die Beschäftigten zu welchem Zeitpunkt im Vorfeld einer geplanten GB-Psych? Können bei der Mitarbeiterinformation – analog zur traditionellen Gefährdungsbeurteilung – Verantwortlichkeiten beibehalten oder erweitert werden? An welchen Stellen ist zwingend der Arbeitgeber als Hauptverantwortlicher einzubinden, wann werden seine Entscheidungen eingefordert? Die Bildung einer verantwortlichen Arbeitsgruppe aus betrieblich zuständigen Akteuren wird empfohlen, um den Prozess zu steuern und voranzutreiben. In kleinen- und mittleren Unternehmen (KMU) ab einer Betriebsgröße von mehr als 20 Beschäftigten kann dies auch der Arbeitsschutz-Ausschuss (ASA) sein.

Resultat: Im Unternehmen ist klar benannt, wer welche Verantwor-tung für die Entwicklung, Durchführung und Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen übernimmt. Alle relevanten Akteure (v. a. Geschäftsleitung, Arbeitssicherheit, Betriebs-rat/Mitarbeitervertretung, Betriebsarzt) sind in der Steuerungsgruppe vertreten, und der Betriebsrat ist (mindestens) informiert.

2. „Schritt für Schritt: Die GB-Psych ist ein Prozess aus Erfassung, Analyse und Maßnahmen“

Anforderung: Das ArbSchG macht es deutlich: Die GB-Psych ist ein Prozess aus Erfassung, Analyse und Maßnahmen (§ 3). Für die betrieblich Verantwortlichen stellt sich dies zunächst einmal als ein komplexer Prozess dar, der schwer überschaubar ist. Wie  Abb. 1 verdeutlicht, bestehen wesentliche Teilschritte in der kompetenten Vorbereitung, Auswahl der Methodik, der Erfassung der psychischen Belastungen, ihrer Bewertung, der Ableitung und Umsetzung von Maßnahmen. Für die Betriebe und Unternehmen bedeutet das letztlich, die GB-Psych als einen Arbeitsgestaltungsprozess oder eine Organisationsgestaltung zu begreifen. Die Mehrzahl der etablierten Leitlinien und Handlungsempfehlungen strukturieren die GB-Psych entlang dieser einzelnen Vorgehensschritte (AfAMed 2011; DGUV 2010b; GDA 2014).

Resultat: Mit Daten kommt es zu Taten! Es besteht also zu Beginn bereits Konsens, dass die Entwicklung und Durchführung der GB-Psych ein Gesamtprozess – aus Analyse, Maßnahmen und deren Erfolgskontrolle – ist. Das wird auch so – nicht nur an die Geschäftsführung – kommuniziert (s. auch Empfehlung 3). Die GB-Psych ist als Prozess einzelner Vorgehensschritte angelegt, die (einzeln) Schritt für Schritt durchlaufen wird.

3. „Unterstützung sichern und Rahmenbedingungen für GB-Psych schaffen!“

Anforderung: In dem Bewusstsein, dass sich aus festgestellten Gefährdungen auch Maßnahmen zur Reduzierung bzw. Beseitigung dieser Gefährdungen ergeben müssen, ist die Akzeptanz und Unter-stützung der Geschäftsleitung und Führungskräfte für den Prozess der GB-Psych und seine Konsequenzen fundamental. Die Unternehmensleitung zu überzeugen, dass eine GB-PSych nicht nur wegen einer gesetzlichen Auflage durchzuführen ist, sondern auch einen substantiellen Beitrag für die Mitarbeitergesundheit, -leistungs-fähigkeit und Motivation – und damit kurzen und langen Endes auch zur Wertschöpfung – leistet, kann hier ein anspruchsvoller Schritt sein. Weiterhin sollten aber auch strukturelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie die Einrichtung eines Steuerkreises/einer Ar-beitsgruppe und/oder externer Umsetzungsbegleitung, zu der auch die rechtzeitige angemessene Einbeziehung der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung gehören kann. Auch die notwendigen Rahmenbedingungen finanzieller, struktureller und zeitlicher Art sind zu vereinbaren. Das sollte in einer Betriebsvereinbarung oder in vergleichbaren verbindlichen Absprachen benannt sein. Dass sich dies in Abstimmung mit vereinbarten Einsatzzeiten, zeitlichen Kapazitäten und der Qualifikation der betreuenden Betriebsärzte voll-ziehen muss, ist selbstredend. Von Vorteil ist die Integration der GB-Psych in ein Arbeitsschutzmanagementsystem.

Resultat: Bereits in der Vorbereitungs- und Entwicklungsphase sind strukturelle, personelle und finanzielle Voraussetzungen benannt und vereinbart, um den gesamten Prozess der GB-Psych dauerhaft zu sichern.

4. „Gemeinsame Sprache sprechen: Qualifizierung der Akteure“

Anforderung: Das Thema psychische Belastungen bei der Arbeit wird von vielen Akteuren als sehr schwierig zu handhaben erlebt – gerade weil vielen Arbeits-/Betriebsmedizinern und Sicherheitsfachleuten in der Vergangenheit kaum Ausbildung und Fachwissen zum Thema vermittelt wurde. Daher ist eine fundierte Qualifizierung der Hauptakteure notwendig: nicht nur zum Thema psychische Belastungen selbst (quasi das Fachwissen), sondern vielmehr auch zu prozessinitiierenden und -forcierenden Handlungsschritten. Das heißt, den Beteiligten sollte auch Methoden- und Gestaltungswissen vermittelt werden. Im Falle von Betriebsärzten bedeutet dies, dass sie in der Lage sind, den Prozess einer GB-Psych im Unternehmen einzuleiten und kompetent zu begleiten: von der Identifikation und Bewertung der psychischen Belastungen über die Intervention bis hin zur Evaluation (AfAMed 2011).

So kann z. B. auf Qualifizierungsangebote des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V., der Deutschen Gesellschaft für Arbeits-medizin und Umweltmedizin, von Hochschulinstituten (z. B. Aachen, Tübingen) oder im Rahmen von Fortbildungen zur psychosomatischen Grundversorgung für Arbeitsmediziner/Betriebsärzte (z. B. an den Universitäten München, Düsseldorf und Rostock) verwiesen werden. Eine frühzeitige Qualifizierung sollte den Projektbeteiligten auch helfen, die Ziele, Erwartungen und Möglichkeiten der GB-Psych realistisch abzuschätzen und zu klären. So helfen z. B. die Kenntnisse etablierter Modelle der Stressentstehung am Arbeitsplatz, die Grenzen und Möglichkeiten der Erfassung und Beurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz vernünftig einzuschätzen (s. auch Empfehlung 5). Dazu zählt die Rolle individueller Merkmale wie Ein-schätzungen, Wissen und Erfahrungen in der subjektiven Bewältigung von Arbeitsplatzbelastungen und welche Konsequenzen dies für die Arbeitsplatzbeurteilung allgemein oder im Einzelfall haben kann.

Auch die rechtzeitige Nutzung von Angeboten und angemessene Einbeziehung der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung (u. a. Angebot von Publikationen und Arbeitshilfen) wäre eine Handlungshilfe. Zudem lohnt sich die rechtzeitige Kontaktaufnahme um späterer kritischer Bewertung vorzubeugen.

Resultat: Eine rechtzeitige Qualifizierung der Beteiligten erprobt nicht nur die im Betrieb erforderliche Kommunikation zwischen den Berufsgruppen, sondern stellt auch ein gemeinsames Verständnis zu Inhalten, Vorgehen und Konsequenzen der GB-Psych her.

5. „Der GB-Prozess bestimmt die Methode und nicht die Methode den Prozess!“

Anforderung: Oft beginnt die erste Diskussion zu einer GB-Psych im Unternehmen mit einem Fragebogen in der Hand. Das ist voreilig. Denn die Frage nach der geeigneten Erfassungs-Methode (wie Frage-bogen, Ratingskala, Checklisten, Expertenbeobachtung, Gruppendiskussion u. a. m.) stellt sich erst nach der Klärung weit wichtigerer Fragen. Wie oben beschrieben, ist die Erfassung nur ein kleiner Schritt in einer Abfolge mehrerer Prozessschritte. Die Erwägungen und das grundsätzliche Vorgehen in der Auswahl geeigneter Methodik und Erfassungswege ist mehrfach beschrieben worden (AfAMed 2011; BAuA 2014; Böckelmann u. Seibt 2011; Herbig et al. 2012; Winde-muth et al. 2010; Wolf et al. 2014). Die Methoden, die Anwendern in Vielzahl zur Verfügung stehen, sollten gemäß der Ziele und Inhalte der Gefährdungsbeurteilung und betrieblichen Bedingungen ausgewählt werden. So sollten neben allen bereits erwähnten Punk-ten, Aspekte wie Anlass (Umsetzung des gesetzlichen Auftrags oder konkrete Problemlage), Art der Tätigkeit, Anzahl und Größe zu erfas-sender Bereiche und Tätigkeiten (auch im Hinblick auf Datenschutz), vorhandene Erhebungen (z. B. Nutzbarkeit bereits durchgeführter Mitarbeiterbefragungen oder vorhandener objektiver Daten), bestehende Eindrücke zum Betriebsklima (etwa im Hinblick darauf, ob „nichtanonyme“ Verfahren wie Interviews und Workshops erfolgversprechend sind), u. v. a. m. betrachtet werden.

Resultat: Erst nach einem Konsens über Gegenstand, Ziele und die zu beurteilenden Arbeitsplatzverhältnisse sollte über die Erfassungs-Methode der Wahl entschieden werden.

6. „Einsatz gütegeprüfter Methoden und gegebenenfalls externer Experten“

Anforderung: Die nationalen und internationalen Normen sprechen eine klare Sprache: Verfahren zur Erfassung und Beurteilung psychischer Belastungen sollten etablierten Anforderungen und Güte-kriterien der Validität (Gültigkeit), Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Objektivität (Unabhängigkeit) entsprechen (ISO 10075-3: 2004; EN ISO 10075-3: 2004). Für die Auswahl der Verfahren sind neben der Fragestellung, Messgüte mit den genannten Hauptgütekriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität) auch Nebenkriterien wie Sensitivität, Diagnostizität, Praktikabilität, Generalisierbarkeit, Zumutbarkeit, Schädigungslosigkeit, Rückwirkungsfreiheit, Ökonomie, Nützlichkeit, Belästigungsgrad für die Untersuchten sowie technischer Aufwand entscheidend (Böckelmann u. Seibt 2011). Geeignete und anforderungsgerechte Verfahren liegen vor (z. B. in der BAuA-Toolbox). Die Nutzung von Verfahren, die diesen Standards nicht entsprechen, sollte vermieden werden. Das ist auch wichtig für die Schlussfolgerungen: Nur so lässt sich eine nachvollziehbare und sachgerechte Bewertung der psychischen Belastungen gewährleisten. Bei Nutzung von Verfahren, die nicht den genannten Anforderungen entsprechen, sind Kenntnisse auf dem Gebiet psychischer Arbeitsbelastung und ihrer Messung Voraussetzung. Auch darüber hinaus kann der Einbezug von Experten bei Prozessentwicklung, Methodenauswahl, Erhebung und Evaluation wichtiges Methoden- und Gestaltungswissen bereit- und sicherstellen.

Resultat: Eine sach- und fachgerechte Durchführung sowie nachvollziehbare Beurteilung der psychischen Belastungen kann mit dem Einsatz gütegeprüfter Verfahren und ggf. der Einbeziehung von Experten sichergestellt werden.

7. „Alles muss klein beginnen: Prioritäten setzen und Fokus finden“

Anforderung: Die GB-Psych ist ein komplexer Prozess, der im betrieblichen Alltag die beteiligten Akteure vor die vielfältigsten Her-ausforderungen stellt. Nach unserer Erfahrung sind Unternehmen in der Umsetzung gerade dann effektiv, wenn sie es schaffen, Prioritäten zu setzen und den Fokus auf handhabbare und absehbare Bereiche und Lösungen zu legen. Das kann in dreifacher Hinsicht der Fall sein: Erstens, sich am Anfang auf wenig aufwendige, niederschwellige, falls notwendig, nicht standardisierte Verfahren zu stützen (z. B. Screening-Verfahren zur Grobabschätzung eminenter Belastungsfaktoren). In einem Folgeschritt lassen sich dann durch Feinanalysen spezifische psychische Belastungen am Arbeitsplatz identifizieren, um auch Bedingungs- und Verursachungszusammen-hänge hinreichend zu beleuchten. Zweitens, Verfahren und Maßnahmenlösungen zuerst an einzelnen Arbeitsplätzen oder in Teilbereichen pilotierend zu testen, und mit den gesammelten Erfah-rungen diese dann auf weitere Arbeitsplätze und Bereiche zu übertragen. Und drittens, in der Auswahl von Handlungsfeldern und Maßnahmenvorschlägen sich auf wenige Lösungen zu konzentrieren, diese dann jedoch effektiv und gänzlich umsetzen.

Trotz aller Priorisierung und Fokussierung zu Beginn muss der GB-Psych-Steuerkreis sich rechtzeitig Gedanken machen, welche nächsten Schritte sich in der Übertragung der ersten Erfahrungen auf die weiteren Bereiche anschließen und wie diese umgesetzt werden können.

Resultat: Durch Prioritäten und Konzentration auf wenige, handhabbare Handlungsbereiche, können Erfahrungen gesammelt und effektive Resultate erzielt werden.

8. „Information für Mitarbeiter und Führungskräfte & Beteiligung bei Problemanalyse und Maßnahmenentwicklung“

Anforderung: Die Beteiligung der jeweiligen Arbeitsplatzinhaber an der Belastungsanalyse und Verbesserung der Arbeitsplätze ist gerade beim Thema psychischer Belastungen angeraten. Die Information und Kommunikation für die betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte stellen Transparenz und Vertrauen her. Dies umfasst unter anderem die Beschreibung der Ziele der GB-Psych, die Ergebnisse der Erhebung und die Rückmeldung sowie den Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen. Diese kontinuierliche Kommunikation, innerhalb der Steuerungsgruppe und auch nach außen in den Betrieb, ist Kennzeichen eines transparenten GB-Prozesses; wie auch die Festlegung klarer Zeiträume und benannter Verantwortlichkeiten. Eine solche Kommunikation ist auch eine günstige Voraussetzung für die aktive Mitwirkung der Beschäftigten bei der Maßnahmenentwicklung und -umsetzung; so haben sich moderierte Gespräche, z. B. im Rahmen einer Personalversammlung, oder Workshops als gute Methoden erwiesen, die mitunter effektiver sind als „instrumenten-intensive“ Vorgehensweisen (BAuA 2014).

Resultat: Eine kontinuierliche Information der betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte stellt Transparenz und Vertrauen her. Die Mitwirkung der Beschäftigten bei der Maßnahmenentwicklung stärkt Akzeptanz, sichert Unterstützung und nutzt die Expertise der Arbeitsplatzinhaber.

9. „Hartnäckigkeit und Geduld der verantwortlichen Akteure“

Anforderung: Erfolgreiche Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen setzen häufig einen Arbeitsgestaltungsprozess oder eine Organisationsgestaltung in Gang. Das rüttelt am Status quo, an betrieblichen Routinen und Abläufen, bedarf der Überzeugung und Abstimmung mit den verschiedensten Betroffenen und Schnittstellen und nimmt Zeit in Anspruch. Das alles braucht Geduld und Hartnäckigkeit in der Maßnahmenumsetzung und -kontrolle. Die Er-arbeitung nachvollziehbarer Maßnahmen anhand eines konkreten Zeit- und Maßnahmenplans mit Nennung von Verantwortlichen kann hier nützen. Sinnvoll ist auch, unterschiedliche Zeithorizonte bei verschiedenen Maßnahmen zu berücksichtigen – einige Maßnahmen sind innerhalb weniger Wochen verwirklicht, andere brau-chen unter Umständen Monate oder Jahre bis sie umgesetzt sind und ihre Wirkung entfalten. Die Transparenz solcher Zeit- und Maßnahmenpläne (vgl. Empfehlung 8) kann zudem dazu beitragen, realistische Erwartungen aufzubauen und Motivationsverlust und Frustration bei den Mitarbeitern zu verhindern.

Resultat: Hier schließt sich der Kreis zu Empfehlung 1. Nur wenn von Beginn an klar ist, wer welche Verantwortlichkeiten im Prozess hat, wird die erforderliche Hartnäckigkeit in der Maßnahmenumsetzung möglich sein und diese zum Erfolg führen.

Nutzen und Grenzen dieser Empfehlungen

Die dargestellten Empfehlungen stellen Erfolgsfaktoren zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen vor – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Gültigkeit in jedem Einzelfall. Aus Sicht der beteiligten Autoren sollen die Empfehlungen in kurzer, handhabbarer Weise eine Handlungshilfe für Betriebsmediziner oder andere Verantwortliche in der Vorbereitung oder Durch-führung einer GB-Psych bieten und sei es nur als Argumentationshilfe bei der Diskussion um Ressourcen und Rahmenbedingungen. Mit den Empfehlungen soll auch betont werden, dass die erfolgreiche Durchführung der GB-Psych weniger eine Entscheidung für einzelne Methoden oder Instrumente ist, sondern vielmehr das gelungene Zusammenspiel von verschiedenen günstigen Rahmen-bedingungen und Prozessfaktoren im Betrieb (BAuA 2014; Beck et al. 2012; EU-OSHA 2012).

Die Empfehlungen haben Limitationen. Sie können keine Hand-lungsanleitung oder Durchführungsbestimmung für GB-Psych-Prozesse sein. Hier sind andere Leitfäden und Empfehlungen mit konkreten Hilfestellungen bis hin zur Instrumentenauswahl nützlicher (AfAMed 2011; DGUV 2010b; GDA 2011, 2014). Da den Betriebsärzten im Betrieb eher die Aufgabe obliegt, die generellen Empfehlungen der vorhandenen Leitlinien in konkrete Handlungsschritte im Betrieb vor Ort zu übertragen und anwendbar zu machen, sind auch die hier aufgeführten Empfehlungen als ein Hinweis oder Vorgehensrahmen zur verstehen. Es wird immer noch der Expertise und Erfahrung der Betriebsärzte, ihrer Kenntnisse der Rahmenbedingungen sowie ihrer medizinisch-fachlichen Einschätzung der psychosozialen Gefährdungen überlassen, wie die GB-Psych für die Arbeitsplätze vor Ort konkret ausgestaltet wird (AfAMed 2011; BAuA 2014; GDA 2014).

Schlussfolgerung

Eine klar strukturierte, systematische Durchführung bzw. Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist die Basis für eine wirksame Prävention (BAuA 2014; GDA 2011, 2014). Das vorliegende Positionspapier mit seinen Empfehlungen umreißt fördernde Prozessfaktoren und Grundsätze, die für eine erfolgreiche Entwicklung und Durchführung einer GB-Psych im Unternehmen entscheidend sind. Günstige Voraussetzungen im Betrieb und förderliche Durchführungsbedingungen sind die zentralen Stellschrauben für erfolgreiche GB-Psych-Prozesse im Unternehmen.

Anmerkung: Die Arbeit des Erstautors wurde unterstützt durch das Förderprogramm der Lieselotte und Dr. Karl Otto Winkler-Stiftung für Arbeitsmedizin.

Interessenkonflikt: Ein Interessenkonflikt liegt nicht vor.

Literatur

AfAMed: Psychische Gesundheit im Betrieb: Arbeitsmedizinische Empfehlung. In A. f. Arbeitsmedizin (Hrsg.). Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Referat Information, Publikation und Soziales, 2011.

Ahlers E: Belastungen am Arbeitsplatz und betrieblicher Gesundheitsschutz vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. Ergebnisse der PARGEMA/WSI-Betriebsrätebefragung 208/2009 (WSI-Diskussionspapier 175). Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung, 2011.

BAuA (Hrsg.): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung: Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin: Erich Schmidt, 2014.

Beck D, Richter G, Ertel M, Morschhäuser M: Gefährdungsbeurteilung bei psychi-schen Belastungen in Deutschland. Prävention und Gesundheitsförderung 2012; 7: 115–119.

Böckelmann I, Seibt R: Methoden zur Indikation vorwiegend psychischer Berufs-belastung und Beanspruchung – Möglichkeiten für die betriebliche Praxis. Zeit-schrift für Arbeitswissenschaft 2011; 65: 205–221.

DGUV: DGUV Vorschrift 2: Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Hintergrundinformationen für die Beratungspraxis). Vol. 2., veränderte Auflage. Berlin: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) e. V., 2010a.

DGUV: Leitfaden für Betriebsärzte zu psychischen Belastungen und den Folgen in der Arbeitswelt. Berlin: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), 2010b.

EU-OSHA: Drivers and barriers for psychosocial risk management: an analysis of the findings of the European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks (ESENER). Luxembourg: Luxembourg: Publications Office of the European Union, 2012.

GDA: Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation. Berlin: Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, 2011.

GDA: Empfehlungen der GDA-Träger zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Berlin: BMAS, 2014.

Herbig B, Seibt R, Lang J, Böckelmann I et al.: Messung psychischer Belastungen: Ausgewählte Methoden und Anwendungsfelder. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2012; 47: 252–268.

LASI-52: Integration psychischer Belastungen in die Beratungs- und Überwachungspraxis der Arbeitsschutzbehörden der Länder. (LASI-Veröffentlichung 53). Hannover: LASI, 2009.

Lenhardt U, Ertel M, Morschhäuser M: Psychische Arbeitsbelastungen in Deutsch-land: Schwerpunkte – Trends – betriebliche Umgangsweisen. WSI Mitteilungen, 2010; 7: 335–342.

Satzer R, Langhoff T: Betriebliche Erfahrungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung bei psychischen Belastungen. Gute Arbeit 2010; 3: 13–16.

VDBW: Psychische Gesundheit im Betrieb – ein Leitfaden für Betriebsärzte und Personalverantwortliche. Karlsruhe: VDBW Geschäftsstelle, 2009.

Windemuth D, Jung D, Petermann O: Praxishandbuch psychische Belastungen im Beruf: Vorbeugen – erkennen – handeln. Wiesbaden: Universum, 2010.

Wolf S, Nebel-Töpfer C, Zwingmann I, Richter P: Erfahrungen und Umsetzungsbeispiele in der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. ErgoMed – Praktische Arbeitsmedizin 2014; 38: 10–20.

Für die Verfasser

Priv.-Doz. Dr. phil. Dipl.-Psych. Matthias Weigl

Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin

Ludwig-Maximilians-Universität München

Ziemssenstraße 1

80336 München

matthias.weigl@med.lmu.de

Fußnoten

1 Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (Direktor: Prof. Dr. med. Dennis Nowak)

2 Ärztlicher Dienst, Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg

3 Bereich Arbeitsmedizin, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Leiterin: Prof. Dr. med. habil. Irina Böckelmann)

4 Arbeitsmedizin, B·A·D Gesundheitsvorsorge- und Sicherheitstechnik GmbH

5 Institut für Präventivmedizin, Universitätsmedizin Rostock (Direktorin: Prof. Dr. med. habil. Regina Stoll)

6 Juniorprofessur für Betriebliche Gesundheitspsychologie, Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, RWTH Aachen (Direktor: Prof. Dr. med. Thomas Kraus)

7 Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, Heinrich-Heine-Universität-Düsseldorf (Leiter: Prof. Dr. med. Peter Angerer)

8 Betriebsärztlicher Dienst, Hamburger Hafen und Logistik AG